Chronik eines verpassten Abschiedes

Sein Herz lief mit Tränen voll und ertrank, drohte damit, meinte er zu fühlen. Er packte den Koffer, der indessen immer größer zu werden schien – nichts war ausreichend, ihn zu füllen bis an den wächsernen Rand. Im Kerzenschimmer verschwamm ein letztes Bild von ihr, verblasste wie ein Schatten vor schwarzer Welt. Der Koffer schnappte zu; in der Küche fiel ein Glas auf den Steinfußboden und zerschellte, zersprang vor seinem inneren Auge in Abermillionen Teile, die in den Bodensee geschüttet und verrührt, noch in jedem abgeschöpften Liter eine Spur hinterlassen hätten – seine Spur, allein, weil er das Glas einst in Händen gehalten, womöglich sogar mit den Lippen berührt, sich an ihm gestärkt, erfrischt – gelabt – hatte. All das wäre möglich. Man kann nicht ein Leben in einen Koffer packen, auch nicht entscheiden, wer geht, was mitkommt. Der Hund, der bleibt. Das war unbestreitbar.

 

Noch immer klirrte das Glas, als wäre sein Zerspringen stehengeblieben, dort unten in der Küche, wie er vermutete. Als würde es in der Zeit hängen, während sich der Klang durch das ganze Haus schlängelte wie eine Gemeinheit, die seinen Kopf erreichen wollte – werde wütend!, schien es zu rufen, jetzt nur mehr zu flüstern, wenigstens das. Schrei oder flehe um Stille. Mach, irgendetwas.

 

Der Koffer stand ihm gegenüber, etwas schief, wie abgeneigt. Doch voll – knapp zwölf Jahre hatte er einfach so in einer Minute in einen Koffer gepackt. Das war eine Leistung, sein Leben verstaut, nichts geblieben, das Klirren verstummt. Ein Hund bellte in der Nachbarschaft. Ein anderer, das hörte er nach acht Jahren. Taub war er nicht, nur seltsam stumpf. Wenn er jetzt die Hand ausstreckte, nach diesem Koffer dort, so könnte er das Haus verlassen haben, bevor es wieder Leben in sich trug. Aber während sein Herz sich einfach in feig-friedlicher Manier durch Ertrinken entzogen hatte, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Und ließ ihn verharren. Er fand nicht die richtigen Worte – steht vor seinem Koffer, weiß, dass alles erledigt ist und dass er fast schon im Auto sitzen könnte. Weiter müsste er sich nicht vorwagen, nicht in dieser Nacht, so denkt er, da könnte er doch vor dem Haus übernachten, getrost und noch nah, mit einem Rest des Klirrens in seinem Kopf und auch das wäre schön.

 

Der Koffer war schwerer als erwartet. Doch mehr Leben in ihm, er hatte wieder das Gefühl, in der Zeit ein wenig hinterherzuhinken – saß er schon im Auto? Im Flur griff er nach seinem Mantel und: Hut, denn seit zwei Jahren trug er einen. Sie hatte ihn ausgesucht. Auf einem Flohmarkt ihm diesen aufgesetzt, ihn geküsst – nichts konnte sie je trennen, wenn es nicht einmal dieser Hut schaffen würde.

 

Die unterste Treppe – abwärtsgerichtet. Vergessen. Er rappelte sich vom Boden hoch. Das war noch nie passiert. Der Charme alter Häuser hatte auch Nachteile. Sein Hut war lächerlicher Weise noch auf dem Kopf, aber seine Brille in die Nacht entschwunden …Nacht. Die eine, die nie zu enden schien. Nun war nicht nur sein Herz blind.

Manchmal geschieht genau das, was kein Mensch je gedacht hätte, wo doch alle Freunde immer sagten: Euch doch nicht, niemals. Doch, gerade uns. Wir, nicht mehr wir, nur noch ich und du oder ich und ich oder wie auch immer. Liebe halbiert, nicht kleiner macht sie, sie halbiert in zwei gleich große Hälften, obwohl: manchmal womöglich in zwei ungleiche. Dann ist doch einer kleiner geworden. Er hatte das Gefühl, der Hut sei gewachsen auf ihm.

 

Es war das Whiskyglas, das gefallen war. Im Vorbeigehen erinnerte er sich, dass er es auf die Waschmaschine in der Küche gestellt hatte. Die läuft noch immer und hüpft wie am ersten Tag beim Schleudern; das hatte er vergessen, dabei hatten sie sich oft darüber amüsiert, wenn die Maschine wieder ihr fröhliches Brummen angestimmt hatte. Sie ging noch immer, warf ihr Schleudern souverän trotzig aus sich heraus und gurgelte sicher gerade einige seiner Socken. Scherben vor der Waschmaschine, überall in der Küche – es musste mehr als ein Glas … Sie wird doch nicht auch?

 

Die Waschmaschine. Ein Phänomen. Sie hatten sie in ihrer ersten Wohnung aufgestellt, sie quasi adoptiert, weil die Vormieterin sie nicht mitnehmen konnte. Eine Freude, ein Schritt Richtung Freiheit. Da hatte sich die Maschine bereits in ihre Herzen geschmuggelt. Die Maschine, welch Irrsinn!, war Gesprächsstoff – würde man sich auf ihr auch lieben können? – ja, man konnte. Sie war anders als andere.

 

Die Zeit, sie steht nicht, selten gibt es diese Momente des Innehaltens, wie gerade, er – hier – die Waschmaschine. Alles starr. Augenblicke, Zeitzwinkern, Atemzüge. Die Zeit zwinkerte ihm zu, schien zu sagen, schau, hier die Waschmaschine, alles Erinnerung, obgleich nur eine alberne Maschine.

 

Um das Whiskyglas tat es ihm leid.

 

Er sollte noch einmal in die Küche, Scherben aufwischen. Sonst würde sie sich in die Scherben knien. Später, wenn sie nach der angemessenen Zeit wieder zurück wäre. Sie würde auch Sachen von ihm in der Maschine finden, das wollte er nicht. Angemessen. Zwischen „ich gehe jetzt mit dem Hund raus und wenn ich wiederkomme …“ und „lass uns sehen, was die nächsten Wochen bringen“ (an Langeweile und Enttäuschung und gegenseitigen Vorwürfen) muss es doch ein Zwischending geben, eines, das ihn nicht in diese Lage jetzt bringen würde. Zurück in der Küche sah er auf die Uhr, dann an sich hinab. Er hatte sich beschmutzt. Vielleicht fände er in der Waschmaschine auch eine frische Hose. Dass er zwölf Jahre mit ihr tatsächlich in so kurzer Zeit verpackt hatte, machte ihm Angst – war der ganze Rest in diesem Haus SIE?

 

Sie war mit dem Hund spazieren. Schneeregen trieb ihr die Tränen in die Augen, fächerte kalt über ihr Gesicht, ließ sie zusammenzucken mit jeder Berührung. Fenja zog nicht wie gewohnt an der Leine. Langsam trottete sie neben ihr her, als ahnte sie, dass sie selbst nicht der Grund für diesen nächtlichen Ausgang gewesen war. Eine Sirene heulte. Sie erschrak, hielt die Leine fest an sich gepresst. Den Satz „es habe nichts, aber auch rein gar nichts mit ihr zu tun“, konnte sie nicht mehr hören. Gleichwohl war er in ihrem Kopf, hämmerte von innen nach außen, war eingesperrt und wurde noch lauter dort draußen in der Finsternis. Die Dunkelheit fiel über ihr zusammen mit diesem Hämmern, schwarze Worte, schoss es ihr durch den Kopf, unsichtbar in der Nacht, aber da. Fenja boykottierte den Spaziergang. Sie saß und wandte den Kopf zurück. Sie wollte heim. Aber es war zu früh, das erkannte sie, als sie die Turmuhr schlagen hörte. Wie in einem schlechten Krimi, dachte sie.

 

Jede Lüge, jeder Betrug hat unweigerlich mit dem Lügenden und dem Betrogenen zu tun. Es gibt keine Lüge ohne jemanden, der sich anlügen lässt, der bereitwillig den Betrug auf sich nimmt, ihn wie einen Mantel trägt, keine Frage stellend aus Angst, diesen Mantel ablegen zu müssen und dann nackt dazustehen. Ihm nur die Dauer eines Spaziergangs zu lassen, um aus dem gemeinsamen Haus zu verschwinden, erschien ihr mehr als gerecht. Sie fror. Wieder eine Sirene. Fenjas Fiepen, ihre Zeichen, dass sie heim wollte.

 

Die Waschmaschine war durchgelaufen; die Scherben waren verschwunden. Der Koffer lehnte am Eingang. Nichts verriet Eile. Als sie mit Fenja das Haus betrat, konnte sie seinen Geruch förmlich greifen. Ein fröhliches Jaulen, ein Zerren an der Leine und weg war der Hund, stolperte und rutschte über die Fließen, stürmte in die Küche; als hätte Fenja geahnt, dass er eigentlich nicht mehr da sein sollte, als wäre sie grenzenlos erleichtert.

 

Sie schluckte. Da saß er, kniete vor der Waschmaschine, neben sich der Wäschekorb. Zärtlich betrachtete sie ihn, über ihm, auf der Waschmaschine, lag der Hut, den sie ihm einmal geschenkt hatte, aus Spaß und dann leichthin entsetzt hatte feststellen müssen, dass er es ernst genommen und ihn wirklich getragen hatte. Nicht schlimm, hatte sie schnell bemerkt, die Liebe ertrug das und irgendwann würde sie ihm … Ja, irgendwann. Jetzt stand sie in ihrem Flur und starrte wie gebannt auf den Hut und den Mann darunter, der von Fenja stürmisch begrüßt wurde – und verlegen wurde.

 

„Ich bin gestürzt, draußen vor dem Haus. Ich wollte nur sehen, ob noch eine Hose von mir …“

„Die wäre aber nass.“

Er nickte, fuhr sich über den Kopf, hob den Wäschekorb auf und brachte ihn zum Kellerabgang. Dann ging er zurück zur Waschmaschine und holte seinen Hut. Er lächelte sie an, schielte zum Hut nach oben, zuckte mit den Schultern, und deutete auf seinen Koffer:

„Hat alles da rein gepasst. Ist das zu fassen?“

Da stand er vor ihr, ein wenig verschwommen wirkte er mit diesem jungenhaften Lächeln, das sie von Anfang an geliebt hatte. Sein Kopf nach vorn geneigt, der Blick leicht schräg, so von unten herauf, ungelenk, doch souverän. Der Hut fest auf dem Kopf. Fenjas Fiepen zwischen ihnen.

Wenn ein Hund im Bett zwischen einem Paar liegt und dies keinen von beiden mehr stört, dann sei man verloren, hatte ein Freund gesagt. Jetzt stupste sie dieser Hund am Arm. Sekunden schlichen durch den Raum und hefteten sich an ihr Kinn und den Hut des Mannes, der doch längst fort sein sollte. Sie spürte ihre Lippen zittern. Dann öffnete sie ihren Mund und flüsterte:

„Umarme mich, nur noch einmal.“

„Zum Abschied?“, fragte er.

„Nur eine Minute, vielleicht, ok? Nur noch ein einziges Mal, ok?“

Und er umarmte sie, trug noch den Geruch frischer Wäsche an seinen Ärmeln, atmete an ihr rechtes Ohr. Langsam und gleichmäßig. Dazwischen das zufriedene Seufzen von Fenja.

„Geh nicht.“