Als ich klein war, dachte ich, die Erde drehe sich, weil wir sie mit unseren Schritten antreiben. Da bin ich gelaufen, habe meine kleinen Füße nach vorne geschleudert – ein tolles Gefühl. Etwas bewegte sich durch mich. Wenn ich dann in der Wiese lag und an den Himmel sah, dann eilten dort die Wolken vorbei und ich spürte die Ruhe der Welt unter mir.
Der Moment, in welchem man begreift, dass die Welt sich aus eigenen Stücken dreht, ist ein einschneidender und auch unheimlicher. Nicht ich bin es, die die Welt bewegt, sondern eine andere, nicht sichtbare Kraft. Eine Kraft, die alles irgendwie zusammenhält, aber so, dass ich es nur verstehen würde, wenn ich irgendwann einmal Physik studiere und nein, das konnte ich wohl schon mit sechs Jahren für mich ausschließen. Im Grunde ist diese Erkenntnis (dass die Welt sich von selbst dreht, nicht, dass ich nicht Physik studieren würde), dieselbe Erkenntnis, die uns auch erkennen lässt, dass die Zeit einfach da ist und läuft wie in einer Sanduhr. Wie die Welt. Zeit und Welt existieren ohne uns.
Als ich klein war, dachte ich, alles ist jetzt und dauert ewig und verweilt für immer in dem guten Gefühl der Gegenwart einer glücklichen Kindheit. Das Glück wird als Zustand empfunden und gesucht, nicht als gelegentlicher Augenblick. Jener Moment, in welchem wir begreifen, dass wir die Erde ebenso wenig drehen wie die Sanduhr nachfüllen können, ändert alles. Es ist der Umkehrmoment der unbeschwerten Kindheit.
Wir lernen die Bedeutung der Zeit und vor allem, die Begrenztheit der Zeit. Wir lernen, dass es unzählige Bewegungsrichtungen gibt, auch solche, die vergeblich sind. Wir lernen auch, dass man sich beim Erwachsenwerden daran gewöhnen muss, dass das Glück eher einer Insel gleicht als dem weiten, unendlichen Universum. Das Leben ist nicht die untere Hälfte der Sanduhr, das Glück nicht der sich auftürmende Sandberg, vielmehr leben wir in dem sich unaufhaltsam bildenden Vakuum darüber. So lernen wir.
Gleichzeitig ist jener Wendepunkt auch die Geburt der Sehnsucht in uns. Und jene Sehnsucht scheint immer stärker zu werden, je mehr wir uns in dieser unteren Hälfte der Sanduhr gefangen glauben. Wir sehnen uns nach dem Zustand, den wir als Kind hatten, wenn wir die Füße nach vorne schleuderten und glaubten, die Erde dadurch in Bewegung zu versetzen. Wir sehnen uns nach diesem Zustand der Bedeutsamkeit. Wenn wir rannten, um einen Vorsprung zu erzielen, uns dann auf den Boden legten und am Himmel lustige Figuren in den Wolken entdecken konnten. Wie sind sie oft geeilt, diese Wolkentiere über den weiten Himmel. Und dann schnell wieder aufspringen und Hand in Hand weiterrennen …
Wir sehnen uns danach, ein Riese zu sein, dem die Unendlichkeit der Zeit nach dem eigenen Leben nichts ausmacht, weil er mit seinen großen Schritten einfach über die Unendlichkeit hinwegsteigt. Oder ein Drache, der darüber hinwegfliegt, der die Sanduhr mit einem Feueratem wegbläst. Wir sehnen uns nach der Unwissenheit, danach, vollkommenes Glück zu empfinden.
Ich habe nicht Physik studiert und ich bin kein Riese. Ich habe gelernt, dass die Welt sich dreht, ohne meine kleinen Schritte und ich weiß, dass die Sehnsucht ein Teil unseres Lebens ist. Eigentlich ist es ungerecht, dass die Sehnsucht in die Kerbe des Verlustes schlägt, dass sie dort ihren Ursprung hat, wo etwas anderes verloren ging, dass sie nicht ebenso unbeschwert daherkommen kann wie eine süße Kugel Eis im Sommer. Dabei ist sie süß, die Sehnsucht. Sie rührt uns an so tief verborgenen Punkten. Vielleicht sollten wir sie anders betrachten, ihr einen neuen Raum geben, vielleicht sollten wir sie nicht in die Ferne schieben wie eine Reise an entlegene Orte dieser Welt, sondern sie schön verpackt in eine kleine Dose auf der Küchenablage stellen. Eine Prise Sehnsucht gefällig?
Die Sehnsucht ist die Suche nach einem abwesenden Glück, eines, das nie erreicht werden darf, denn der Weg muss das Ziel sein. Sehnsucht ist das Streben nach der glücksseligen Unerreichbarkeit. In der Sehnsucht reichen einander die nostalgisch-wehmütige Erinnerung an die verlorene Kindheit und die ideale Vorstellung, wie man selbst gerne wäre, die Hand.
Sie ist immer da, aber sie ist nicht bedrohlich für unser bestehendes Glück, vielmehr ist sie ein Teil dessen, was wir mit dem Untergang unserer kindlichen Weltsicht zwar verloren haben, aber doch in uns tragen – dieses unbestimmte Gefühl, dass wir es trotz der Physik geschafft hätten, diese Welt in Bewegung zu halten …
Hätte man uns nur gelassen …