Heute habe ich die Wintersachen im Schrank nach vorne gerückt, die Tops und leichten Shirts dafür nach hinten – ein untrügliches Zeichen, dass der Sommer vorbei ist.
Freuen wir uns also auf den Herbst und wieder Kerzen am Abend, auf den schweren Rotwein statt der eisgekühlten Weine in hellen Tönen, freuen wir uns auf all die Farbenpracht und die Rock-und-Stiefel-Zeit, auf schicke Mützen, die unfertige Frisuren zu verbergen wissen und die vielen kuschligen Schals.
Zeit für Gedanken an vernachlässigte Dinge, an Freunde, die man dringend wiedersehen muss, Zeit für einen Hauch an Nostalgie. Da schwappt diese übertriebene Rührseligkeit in uns hoch – über alte Eissorten, die den Namen einer Gebirgsgruppe tragen; über das Leben, als wir alle noch vermeintlich jung und unbeschwert waren, und ich meine jenes Jung-Sein im Sommer, das uns die eigene Jugendlichkeit nur vortäuscht, das wir dann aber bereit sind zu anzunehmen; und nicht zu vergessen diese herrlichen Momente am See, wenn die Sonne sich untergehend spiegelte und wir seufzend dachten, so ergreifend wird es nie wieder. So groß diese ganze überschäumende, strahlende Schönheit, so groß unsere Wehmut, als wäre es dieses Jahr der letzte Sommer gewesen, als wäre alles im Schwinden und nicht nur im Wandel. Das holt uns jedes Jahr aufs Neue ein. Später wird es an Weihnachten so sein. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als meine Eltern jedes Jahr überlegten, wie sie den Weihnachtsbaum schmücken sollten, was bei uns so viel hieß wie „Lametta ja oder nein“. Meine Mutter wollte kein Lametta, mein Vater wollte Lametta. Er war nicht alt, aber älter als meine Mutter und sagte, er würde nachhaltig für Lametta plädieren, denn er wisse ja nicht, wie viele Weihnachten er noch habe. Für mich als Kind war das abstrakt, der Baum schön ob mit oder ohne Lametta und naja, ich hab den Baum erst viel später ohne Lametta kennengelernt.
Im Grunde erleben wir jeden Moment nur ein einziges Mal, viele jedoch erscheinen nicht in dieser Einmaligkeit, sondern wirken beliebig und daher eben reproduzierbar. Weihnachten und dem Zauber eines Sommers wohnt die Einmaligkeit inne und damit auch die Wehmut.
Meine Tochter sagt seit einiger Zeit, sie denke an meinen Vater, der starb, nicht lange bevor sie auf die Welt kam. Dabei denke sie nun an „ihren Großvater“ im Himmel, der auf uns aufpasst und auf alle Tiere, die von uns gegangen sind … Im Herbst also ist diese Zeit für Melancholie und die Sehnsucht nach den Liebsten.
Herbst ist die Dämmerung der Zeit, ist wie das Vergehen eines Tages und dessen Hinübersegeln in die Nacht. Herbst ist das Festhalten der Schnur, an deren Ende ein Luftballon fröhlich im Wind tanzt. ‚Ich werde vergehen‘ säuselt er, leuchtet rot oder grün oder lila vor sattem Blau und üppigen Wolkenbergen am Horizont.
Herbst ist Mahnung an die eigene Vergänglichkeit und gleichzeitig ein unglaublicher Ruf des Lebens nach sich selbst. Komm und nimm mich, rufen die Farben des reifen Obstes, rufen die Felder, die bunten Blätter. Pflück uns, genieße uns, behalte uns in Erinnerung. Herbst ist die sich erfüllende Sehnsucht nach Vielfalt, nach Bleiben, nach sich einrichten. Herbst ist nicht der Moment für den weiten Blick in die Ferne, für Zukunftspläne, Herbst ist die Gegenwärtigkeit in Farbe gepinselt. Er lädt uns ein, darin zu verschwinden für den Augenblick. Herbst ist wie laute Musik, die niemand hört und doch im Herzen trägt, die jeder stumm mitsingen kann – im besten Fall tanzen wir zu den lautlosen Klängen des Herbstes in uns. Herbst ist die Sehnsucht nach dem Reisen in Gedanken, nach innerer Bewegung, nach Gesang und Menschen, die einem fröhlich begegnen. Der Herbst ist die gereichte Hand des Freundes, dessen Blick, der Trost verspricht für die kalte Zeit, die vor uns liegt, der Herbst ist ein Zwinkern und ein Lächeln – natürlich mit einem Seufzen dabei. Herbst ist ein Weckruf, nichts als Selbstverständlich zu nehmen, sondern im Herzen zu bewahren – und doch beruhigt ziehen zu lassen.
Ich stehe vor meinem Schrank, all diese Gedanken an den Herbst in mir und um mich herum. Ich schmecke das Eis meiner Kindheit, das ich im Sommer noch einmal versuchte, voller Erwartungen, jenen Geschmack wiederzufinden, den ich als Kind hatte, vergeblich. Es war viel zu süß und schmeckte nach keiner der angegebenen Früchte, aber es war ein großer Moment – die Zeit hatte ich kurz zurückgeholt. Im Schrank blinzelt noch das Rot eines Shirts frech über die Wollpullis. Ich muss lachen, es scheint mir zu winken, wie ein Luftballon, der sich aus der Hand eines Kindes gelöst hat. Das Weinen am Boden zurücklassend segelt er hinauf, bleibt kurz an einem Zweig hängen, verheißungsvoll winkt er nun auch mir und verschwindet dann am Himmel, langsam, lange bleibt er in quälender Sichtbarkeit, schürt das Weinen und ist doch unwiederbringlich verloren. ‚Adieu‘ flüstere ich ihm nach und langsam strecke ich meine Hand aus und schiebe das T-Shirt weiter in die Tiefe des Schrankes. Schön zu wissen, dass alles so gut verborgen ist und doch wieder zum Vorschein kommen wird. Adieu, flüstere ich, Adieu Sommer.
Willkommen Herbst!
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