Ach, wollen wir auch mal wieder nach Bremen? Nach Bremen, denken Sie sich, was will die Frau mit uns in Bremen? Tja, nach Bremen wandern heißt, die ursprünglichste aller Hoffnungen mit einem Ziel zu versehen. Wenn ich jetzt sage, wir packen Musikinstrumente ein, dass wissen Sie sicherlich, weshalb mir Bremen einfällt. Genau. Zu viert brachen sie auf. Ihre Hoffnung war klein, dennoch als existentiellste Hoffnung, die es geben kann, unfassbar groß. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, sagen sie. Die Bremer Stadtmusikanten, Esel, Hund, Katze und Hahn. Es ist im Grunde eine einfache Geschichte, eine, die man eben mal so erzählt und doch ist die Geschichte größer denn je. Etwas Besseres als den Tod finden wir überall. Etwas Besseres als der Tod ist das Leben, egal wie. Überleben um jeden Preis. Und schon ist es eben nicht mehr nur die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten, die versuchen ihren schlechten Herren zu entkommen, der Folter, der Qual, der schlechten Versorgung, der Ausbeutung, der Ignoranz. Schon sind wir in der Gegenwart, in der Gegenwart und bei all den Menschen, die sich auf den Weg machen, die den Tod riskieren, um etwas Besseres zu finden. Bei allen Tieren, die Opfer werden, Opfer unserer grenzenlosen Gier, von Lobbyismus, von Wegschauen.
Nein, weder die Helden aus der Geschichte, noch die Flüchtenden der Gegenwart erwarten das Paradies, nicht das große Glück. Sie flüchten genau mit diesem Minimalanspruch an das Leben – dem Ziel zu überleben. Denn worin schon sollte dieses große Glück bestehen? In der Fremde, in der Einsamkeit, im Zurückgewiesen sein? Was bilden wir uns ein, das Glück jener überhaupt zu definieren, wo wir doch überhaupt nicht wissen, wie es ist, wenn man da steht, am Ende eines Tages und weiß: Etwa besseres als den Tod finden wir überall … Egal wo. Wir, die wir so hilflos sind, wenn es um Glück geht.
Dies ist ein Text über das Glück. Das Glück der anderen.
Über das Glück wurde schon viel nachgedacht, es wurde darüber geforscht und danach gesucht. Ganze Bücher und Filme handeln davon. Es gibt Schulen, die sagen, man könne „Glück“ lernen. Skeptiker meinen, manchen Menschen sei es einfach nicht gegeben, glücklich zu sein, dass sie gar Furcht vor dem eigenen, möglichen Glück haben, immer eine Fliege in der Suppe suchen. Andere wieder behaupten, das Glück liege immer bereit, man müsse nur mit dem zufrieden sein, was sich einem bietet. Glück ist demnach ein schwer zu fassendes Gut, etwas, das man schon allein deshalb nicht suchen kann, weil man es ja auch nicht definieren kann.
Einmal habe ich mit meiner siebenjährigen Tochter die Dokumentation „Bhutan – Königreich der Glücklichen“ angesehen. Sie liebt Dokumentationen, eigentlich zwar eher Naturdokus, aber das Wort „Königreich“ ließ sie wohl an Pferde denken und damit war es interessant. Außerdem haben wir doch schon so oft über das Glück geredet in den vergangenen Jahren. Was es ist und ob nicht völlig klar sein sollte, dass dazu sowieso immer ein Pferd gehört. Nun also Bhutan. Ganz ohne Pferd. Ein Land, das nicht Wirtschaftswachstum und Fortschritt will, sondern einfach nur Glück, ohne Artikel. Abstraktes Glück also. Ein Land, das Glück für das Volk zum obersten Staatsziel erklärt und Tausende von Glücksforschern aussendet, um zu prüfen, ob auch wirklich alle glücklich sind. Glück ist dort nicht nur erklärtes Ziel, sondern dadurch auch so etwas wie der „erklärte Zustand“ des Volkes.
„Kann man das denn so einfach festlegen? Man hat da also die Pflicht, glücklich zu sein?“, fragt meine Tochter.
Interessante Frage: Eine Pflicht? Werden wir automatisch glücklich, wenn man uns von klein auf sagt, dass wir glücklich sein sollen?
Ich erinnere mich an meine Tochter vor ein paar Jahren. Sie war drei. Jeden Tag feierte sie den Geburtstag eines ihrer Stofftiere, jeden Tag backte sie Kuchen in ihrer Kinderküche, deckte den kleinen Spieltisch, schenkte Kaffee aus für alle Gäste, sang ein Geburtstagslied. Jeden Tag war ich eingeladen, neben Zebra, Teddy, Maus und Co in dieser kleinen Runde zu sitzen und mitzufeiern. Jeder Geburtstag war der allerschönste. Meine Tochter war glücklich. Jedes Mal. Sie hatte natürlich wie die meisten Kinder diese Fähigkeit zum bedingungslosen Glück, dabei gilt: Ich gestalte mir diesen Moment so, dass er mir gefällt. Das hängt eben von keinen äußeren Bedingungen ab. Wenn kein Spieltisch, keine Spielküche und keine anderen Stoffgäste da waren, dann stellte sie Steinchen hin, trank aus imaginären Tassen. Nichts spielte eine Rolle, nicht die Tatsache, dass es regnete oder zu kalt war, dass das Spiel in wenigen Momenten schon vorbei sein würde, weil Mama keine Lust mehr hat oder einfach gern kochen wollte. Also in echt. All das verkleinerte nicht den Augenblick des großen und tief empfundenen Glücks. Das nenne ich Seelenheil. Kleines Glück ganz groß.
Spätestens als Erwachsene haben wir diese Fähigkeit verloren irgendwo zwischen der Organisierung unseres Lebens und der vermeintlichen Planbarkeit einer allgemeinen Zufriedenheit. Unser Glück liegt daher leider immer seltener in der Gegenwart, in diesem „hier und jetzt“, das doch eigentlich das Leben ausmacht, sondern eher in einer möglichst naheliegenden und hoffentlich eben auch eintretenden, klug geplanten Zukunft – im „bald“. Unser Glück, diese sorgsam gehegte Vorstellung wie alles einmal besser sein könnte, dieses ganz große Glück ist eingesperrt zwischen „wenn-dann“-Formulierungen und der damit verbundenen Hoffnung, dass „wenn morgen die Sonne scheint …“ oder „wenn morgen dies oder jenes eintritt“, dann sich das Glück von selbst dazugesellt. Allerdings besteht durchaus die Gefahr, dass niemand glücklicher wird als er es jetzt gerade sein könnte.
Wann genau fängt diese Verschiebung des Glücksgefühls in die Zukunft an? Begegnet Bhutan im Grunde dem Verlust des kindlichen Glücksgefühls? Bhutan, das einzige Land ohne Ampeln. Wo Glück ein „Zustand“ ist, kann offensichtlich auch an Kreuzungen nichts passieren. Ist der Mensch dort glücklich, weil er es gesagt bekommt, oder hat er sich frei dazu entschlossen? Und wie passen eigentlich Hingabe und Liebe zu einem solchen „Zustandsglück“?
Eine Bekannte erzählte von ihrer Indien-Reise. Sie habe einen jungen Mann kennengelernt, Anfang 20. Frisch verheiratet mit einer 16-jährigen. Die beiden lebten in einer Hütte mit nur einem Zimmer, ihre Hochzeit wurde arrangiert und: sie wirkten angeblich glücklich. Hingabe, Liebe und Glück seien „Aufgabe“ des Menschen nach dem Motto: „Hier bin ich, ich lebe durch Gott oder irgendeine andere Instanz, die das so haben wollte, also habe ich die verdammte Pflicht damit zufrieden zu sein.“ Der Bhutan-Gedanke.
„Wann weiß ich, dass ich mich bewegen muss?“ Meine Tochter wieder …
„Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, fliegt mir durch den Kopf. Unsere vier Bremer, sie wagen das absolut Utopische – sie verlassen Haus und Hof, brechen auf in die Fremde. Ihr Leben war in Gefahr. Es konnte nur besser werden. Die Frage ist also wie bedrängend ein Zustand sein muss, dass man davon ausgehen kann, jeder Schritt wäre ein Schritt in Richtung Glück. Der drohende Tod ist in seiner Absolutheit eindeutig, aber davor gibt es doch viele, viele Stufen.
„Du sagst doch immer, wie viel Glück wir hier haben und dass wir in diesem Land leben, dass es uns so gut geht und dass das alles nicht selbstverständlich ist“, sagt da gerade meine Tochter.
Stimmt, das versuche ich ihr immer beizubringen.
„Und, weißt du, genauso fühle ich das auch“, bestätigt sie.
Das ist gut, denke ich, gleichzeitig aber beschleicht mich die Ahnung, dass dieses Gefühl einer ganzen Reihe von Prüfungen ausgesetzt sein wird.
„So schwer ist das doch gar nicht“, setzt sie nach. „Das mit dem Glück.“
Später am Abend wurde mir klar was unser Problem ist, unser Luxusproblem eigentlich: Wir lernen nicht, dass Glück ein Zustand ist, den man im Jetzt ergreifen und erfahren muss. Stattdessen lernen wir von klein auf, in der Schule und der Ausbildung, dass das Glück vor allem darin bestehen könnte, glücklicher als andere zu sein, als wären wir unfähig, unser Glück als etwas Absolutes zu sehen, als bräuchten wir den ständigen Vergleich, als wäre das eigene Glück schon dadurch in Gefahr, dass andere auch glücklich sind, vor allem, dass andere sich auf den Weg machen, bei uns ihr Glück zu suchen, als schmälere das das eigene Glück. Das Glück der anderen verunsichert uns, selbst wenn es nur wage im Raum steht, denn ihr Glück könnte ja besser sein. Wir sind weit von der existentiellen Not der „Bremer Stadtmusikanten“ entfernt und dennoch treibt uns dieser eine Gedanke scheinbar immer an: „Etwas besser als das eigene Glück gerade finden wir überall …“
Aber das wird nicht passieren. Das Glück, das nur in einer Zukunft liegt, nur in einer Steigerung, zerstört jenes Glück, das in der Gegenwart ruht – dies ist ein sich fortsetzender fataler Kreislauf, denn beide Zeiten, beide Zustände also, sind immer existent. Anders ausgedrückt: Es wird immer ein mögliches, größeres Glück in der Zukunft geben, wenn man sich dieser Hoffnung einmal hingegeben hat. Dann ist man bereits verloren, mag ich gerade sagen und verschweige es. Der Mann an meiner Seite spricht von Lebenszeit als größtes Glück. Zeit, die das Leben einem lässt, Zeit, die man teilt mit Menschen, die man liebt, Zeit, die man bewusst erlebt. Aber muss der Mensch sich wirklich immer der eigenen Endlichkeit bewusst sein, um das zu erkennen? Weshalb tragen wir den Fortschrittsgedanken in uns und geben ihn auch noch weiter, obwohl wir doch längst wissen, dass er eben nicht glücklich macht.
Das Glück der anderen. Die große Frage bleibt und ist drängender denn je. Unser Glück etabliert sich größtenteils auf dem Rücken und zu Lasten vieler anderer. Kann das Glück sein? Kann Glück den Tod und Schmerz anderer in sich tragen, ihn verbergen? Ich denke nein.
Was wir brauchen ist eine Mischung aus der autoritären Festlegung eines Zustandsglücks und einem grundsätzlichen Verantwortungsbewusstsein für das absolute Glück unserer geistigen Freiheit. Gleichzeitig brauchen wir eine Abkehr von dieser anerzogenen Sucht nach Glück durch ständigen Fortschritt und Veränderung.
Was uns fehlt ist die natürliche Dankbarkeit dafür, dass es auch ein unverschämtes Glück bedeutet, keine Ahnung davon zu haben, was es heißt, denken zu müssen: „Etwas Besseres als den Tod finden wird überall.“
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